Mirko Slomka sprach nach dem Debakel in München ratlos von einem „zweiten Gesicht“ der Mannschaft und konnte „diese Leistung nicht verstehen.“ Bevor es endgültig zu spät ist, wollen wir es ihm erklären.
„Die Mannschaft hat offenbar zwei Gesichter“, philosophierte Slomka nach der Rekordjagd von München vor sich hin. Diese Sichtweise ist in Hannover populär. Nach Punktgewinnen meint man stets ein kämpferisches, engagiertes 96 gesehen zu haben. Dagegen werden Niederlagen gerne der Selbstzufriedenheit und der Charakterlosigkeit der Spieler zugeschrieben. In Wirklichkeit hat die Mannschaft beim Debakel gegen Bayern, den Niederlagen in Dortmund und Stuttgart genauso wie beim Unentschieden in Hamburg stets dasselbe Gesicht gezeigt. Letztlich war diese Physiognomie der Mannschaft sogar bei den erfolgreichen Spielen gegen Freiburg, Frankfurt und Schalke deutlich erkennbar.
Insbesondere den scheinbar beherzten, kämpferischen Auftritt in Hamburg trennt bei näherem Hinsehen vom Bayernspiel nicht viel. Beide Male stand 96 sehr tief, beschränkte sich ausschließlich auf die Defensive und entwickelte praktisch keine Offensivaktionen. Selten kamen mehr als zwei, drei Pässe am Stück beim eigenen Mann an. Selbst bei formschwachen Hamburgern hätte die Doppelriegeltaktik eigentlich zu einer deutlichen Niederlage führen müssen, was sie auch getan hätte, wenn Aogo mit seinem Fernschuss in der ersten Halbzeit nicht nur den Pfosten getroffen hätte. In die Irre führte auch die Torschussstatistik. Zwar hatte Fromlowitz in der 2. Halbzeit – obwohl 96 weite Strecken in Unterzahl spielte – keinen Ball aufs Tor bekommen. Dennoch war es in beiden Halbzeiten ein Spiel auf das Tor von Hannover 96. Trotz der Phantasielosigkeit des Hamburger SV kam es auch im zweiten Abschnitt zu einer Vielzahl gefährlicher Situationen vor dem Tor der 96er, während ein Treffer für die Roten eigentlich zu keiner Zeit im Bereich des Möglichen schien.
Schon gegen Schalke 04 konnte man sehen, dass diese Taktik bei Bayern München nicht gut gehen konnte. Den Zweitorevorsprung hatten die Schalker, nachdem 96 sie tief stehend zur zweiten Halbzeit empfangen hatte, schnell egalisiert. Insbesondere entstanden nach der Einwechslung Rafinhas ständig gefährliche Situationen auf der linken Seite der 96er. Wie sollte dies also gegen einen vom besten deutschen Außenverteidiger Philipp Lahm abgesicherten Arjen Robben in Weltklasseverfassung funktionieren? Dazu kommt noch die besondere Anfälligkeit der hannoverschen Innenverteidigung bei Standardsituationen, die nicht gerade für das Ermauern eines torlosen Unentschiedens sprach. Nicht zufällig begann der Torreigen mit einem auf eine Ecke folgenden Treffer. „Nichts haben die gemacht nach vorn“, wunderte sich selbst Ivica Olic, für den als Bayernstürmer defensiv eingestellte Auswärtsmannschaften an sich keinen großen Neuigkeitswert haben dürften. Bayerns Schwächen in der Defensive, an der weder Robben noch Ribery wirklich teilhaben, hat ja nicht erst ein Manchester United, sondern schon die mittelmäßige Frankfurter Eintracht aufgezeigt. Erlaubt sei daher zumindest die Frage: Verliert man eigentlich mit einer Harakiri-Offensiv-Taktik des Praktikanten von der 96-Geschäftsstelle bei Bayern München mit mehr als sieben Toren Unterschied?
Im Slomkaschen Riegel spiegelt sich ein typisches Denkmuster der 96er wieder, mit dem man im Abstiegskampf nicht bestehen wird. Weniger vertraut man auf die eigenen Fähigkeiten, vielmehr hofft man auf die glückliche Fügung der Dinge von außen. Sei es dadurch, dass die Konkurrenz über Wochen verliert, sei es durch einen glücklichen Führungstreffer, den man mit Glück und dank des gegnerischen Unvermögens über die Zeit rettet wie gegen Freiburg, sei es durch zwei Platzverweise für den Gegner wie gegen Frankfurt. Passivität prägt das 96-Spiel. So fragte man sich etwa in der Schlussphase gegen Frankfurt, wie viele rote Karten die Eintracht eigentlich bekommen muss, bis 96 selbst die Entscheidung sucht.
Wenn es schlecht läuft, wirkt die von Trainer und Mannschaft gelebte Passivität wie Arbeitsverweigerung. So stellte die „Süddeutsche Zeitung“ nach dem scheinbar teilnahmslosen Gekicke der Roten beim 0-2 in Stuttgart irritiert fest, 96 sei wie die erste Mannschaft der Bundesligageschichte aufgetreten, die sich nicht für Fußball interessiere. Diese Teilnahmslosigkeit ist aber keine Folge fehlender Einstellung, kein Zeichen mangelnden Einsatzes der Mannschaft. Sie entspricht eher der psychischen Lähmung eines Depressionskranken, der fürchtet, dass es mit jeder Bewegung nur noch schlimmer kommen könnte. Genau hier liegt auch das Versäumnis des Kölner Sportpsychologen Andreas Marlovits, dem es gemeinsam mit den Trainern offenbar nicht gelungen ist, bei der Mannschaft diese Denkmuster zu durchbrechen.
Angstbefreit ist 96 in der Rückrunde nur ganz selten aufgetreten. Gegen Wolfsburg spielte man engagiert, doch fehlte den Aktionen das Selbstvertrauen. Vom Heimspiel gegen Frankfurt blieben neben einer starken Anfangsphase die Minuten nach der ersten roten Karte in guter Erinnerung, in denen 96 entschlossen das 2-1 suchte. Hoffnung gibt aber vor allem die Schlussphase gegen Schalke, in der die Mannschaft sich aus ihrer Passivität, die ihr den Zweitorevorsprung gekostet hatte, zu befreien schien. Hier muss 96 in Leverkusen ansetzen. Ein löchriger Slomka-Catenaccio ist psychologisch Gift für diese Mannschaft, denn er vermittelt, dass 96 nur etwas zu verlieren hat. Schluss sein muss daher auch mit dem nervtötenden Gerede vom 0-0, bei dem jedes Spiel bekanntlich beginnt. In Leverkusen geht 96 mit einem 0-1 aufs Spielfeld und hat 90 Minuten Zeit, dies zu ändern.