Warte nur ein Weilchen, bald kommt der DFB auch zu dir

Unsere irischen Freunde von den St. Patrick’s Athletics schauten etwas irritiert. Nein, das ist doch keine Hitlerfahne, die über die gesamte Spielzeit von den Ultras im 96-Block geschwenkt wurde. Ein Massenmörder wie Hitler, wo denkt ihr hin? Das auf der Fahne ist Fritz Haarmann, der Schlächter von Hannover, der in den 1920er Jahren in unserer schönen Stadt etwa zwei dutzend Menschen umgebracht und zu Wurst verarbeitet hat. Kein Grund zur Sorge. Eine lustige Anekdote war das, fanden wir und freuten uns in einem Dubliner Pub bei einem von der FIFA lizenzierten Bier über die mit unserer Auskunft formulierten moralischen Unschärfen.

Hitler? Nein, nur der Massenmörder Haarmann mit seinerzeit modischem, akkurat gestutztem Oberlippenbart. Schlechten Geschmack darf man Haarmann daher nicht vorwerfen. Unsportlich war er nach Informationen des DFB allerdings sehr wohl.

In der darauf folgenden Woche begann dann nach dem Heimspiel gegen Schalke 04 die Fahnenwut bei BILD, Skandal in Hannover! Vorher hatte die Haarmann-Fahne ewige Zeiten seltsamerweise niemanden gestört. Mich würde es nicht wundern, wenn Auslöser die Denunziation einer der Blockwarte Leserreporter der BILD gewesen sein sollte, der Fritz Haarmann angesichts seines akkurat gestutzten Schnauzers ebenso zunächst für den Mann gehalten hatte, um den Guido Knopp sein tausendjähriges Dokureich aufgebaut hat. Wenn dann jemand bei der BILD erstmal mit Tempo auf dem Empörungsschnellweg langdüst, lässt er sich eben mit dem Hinweis darauf, dass es sich in Wahrheit um den Serienkiller Haarmann handelt, nur noch ungern bremsen. Und so sieht die BILD beim Europapokalauswärtsspiel in Enschede plötzlich eine Haarmann-Fahne, wo gar keine ist, während eine vermeintliche Qualitätszeitung aus dem Madsackverlag beim Heimspiel gegen Nürnberg eine auf mysteriöse Weise gewachsene Haarmann-Fahne entdeckt haben will. Also eine Art Fata Morgana, nur dass diese – nennen wir sie haarmannsche Fata Morgana – wohl eher nichts mit dem Prinzip Fermats, vielleicht aber mit dem Prinzip der Fermentierung zu tun hat. Die, nun ja, Berichterstattung bleibt nicht ohne Folgen. Zunächst stellt 96-Präsident Kind klar: „Das geht gar nicht und ist verboten.“ Später droht Kind den Fahnenschwenkern sogar mit Stadionverbot, wobei es die HAZ schafft, diese Nachricht in den Zusammenhang mit Prügeleien in Enschede zu stellen. Gewalttäter ist nach nun herrschender Definition also, wer jemanden totschlägt, Pyros zündet oder gegen die Regeln des guten Geschmacks verstößt. Der Eskalationskreis schließt sich, als Hannover 96 in dieser Angelegenheit Post aus der Otto-Fleck-Schneise erhält: „Das Zeigen von Transparenten mit vollkommen geschmacklosem und unsportlichem Inhalt durch Hannoveraner Zuschauer kann im Wiederholungsfall sanktioniert werden.“

Nach sechs großen Hasseröder sah ich die Haarmann-Fahne nicht nur verschwommen, sondern sie schien mir auch ins Monströse gewachsen zu sein.

Gewiss, Kampagnenjournalismus ist nicht schön, nüchternen Journalismus würde man sich wünschen, der seinem Informations- und Aufklärungsauftrag gerecht zu werden sucht. Aber haben in der Sache nicht trotzdem diejenigen Recht, die es geschmacklos finden, die Fahne eines Serienkillers im Fanblock zu schwenken, zumal es sich bei diesem um einen Päderasten handelte, der mit Vorliebe kleine Jungs und junge Männer tötete?

Unsinn, werden viele hierauf antworten: Der Fritz Haarmann ist doch in Hannover Stadtfolklore – wie Jack the Ripper in London. In der Tat soll es bereits in den 1930er Jahren in Hannover üblich gewesen sein, den seinerzeit populären und von Walter Kollo gesungenen Schlager „Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt auch das Glück zu dir“ umzudichten. Statt dem Glück schaute in Hannover der Haarmann vorbei und zwar mit seinem Hackebeilchen (Quellen: Oma (existiert nur offline) und wikipedia). Der Jazzmusiker Hawe Schneider schaffte es 1961 mit seiner Dixieland-Version des Liedes sogar für vier Wochen in die Top Ten der deutschen Charts. Man kann also festhalten: Der schwarzhumorige Umgang mit der Figur Haarmann hat in Hannover Tradition.

Mehr noch, so befremdlich es auf manchen wirken mag, irgendwie scheint Haarmann für den einen oder anderen in Hannover in gewissem Maße identitätsstiftend zu sein. Wie möchte man es sonst deuten, dass die Hannover Marketing und Tourismus GmbH auf einem Türchen ihres Adventskalenders ein kleines Fritzchen untergebracht hat? Offizielle Stadtführungen derselben Tourismusagentur sehen den Besuch der Straße mit dem Namen „Rote Reihe“ vor, in der Haarmann wohnte und mordete – Gruseln inklusive. Ach ja, schließlich kokettiert nach einem Bericht der FAZ unter dem Namen „Rote Reihe“ auch noch ein Prominentenfanclub mit der Haarmann-Folklore, in dem Martin Kind  Ehrenmitglied sein soll. Wie nennt man es noch mal, wenn man Werturteile, die man für eine Person oder Personengruppe trifft, hinsichtlich eigener Bedürfnisse oder Bedürfnisse der eigenen Peergroup nicht gleichermaßen anwendet? Ist mir gerade entfallen.

Da werden Äpfel mit Birnen verglichen, wendet mancher hier nun ein. Schwarzer Humor, Kokettieren, darum geht es den Ultras doch gar nicht, vielmehr wollen die sich über die Fahne mit dem Konterfei des Massenmörders Haarmann als taffe Outlaws produzieren, führen diese Leute weiter aus und liegen damit wahrscheinlich noch nicht einmal ganz falsch. Denn von den Ultras wird nicht nur regelmäßig die Haarmann-Fahne geschwenkt, sondern auch gerne ein Lied geträllert, das davon erzählt, wie man Messer in Bäuche steckt, welche die Aufschrift „Wir waren besser“ tragen. Dies kann man als geschmacklos, zumindest als reichlich pubertär empfinden.

Nur tut dies alles letztlich nichts zur Sache. Denn über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten und deshalb ist schlechter Geschmack auch nicht verboten. Ziemlich problematisch wird es daher dort, wo man aus Fragen des Geschmacks solche des Rechts machen möchte, dort also, wo Hannover 96 mit Stadionverboten und der DFB mit Sanktionen drohen. Aus einer Geschmacklosigkeit wird hier urplötzlich Unrecht, sie gar in die Nähe von Gewalt gerückt.

Sie sind mir ja einer, höre ich schon diejenigen mir entgegenrufen, die die Aufgaben des Rechts maßlos überschätzen. Und morgen werden dann Fahnen von Breivik, Mundlos oder Hitler mit ins Stadion gebracht oder was, würde dann wahrscheinlich noch selbstgewiss hinzugefügt. Selbstverständlich nicht und dies kann man mit einem Mindestmaß an Willen zur Differenzierung auch erkennen, muss ich da antworten. Die Grenze verläuft nämlich dort, wo Recht gebrochen, insbesondere gegen Straftatbestände verstoßen oder auf den Persönlichkeitsrechten von Opfern oder ihren Angehörigen herumgetreten wird. Breivik-, Mundlos-, ja sogar Hitlerfans müssen ihre Vorlieben also für sich behalten und haben in der Öffentlichkeit nichts zu suchen.

Hinter dem Tugendwahn der Geschmackswächter blitzt schon die Willkür auf. Das französische Lokal bei mir um die Ecke könnte man dann auch gleich dichtmachen. An dessen Fassade prangt nämlich ein Mao-Portrait in stylishem Retro-Look. Mao Tse-tung hat bekanntlich mit seinem „Großen Sprung nach vorn“ mal eben geschätzt 15 bis 45 Millionen Menschen über die Klinge springen lassen. So halbwegs genau wie beim Fritz Haarmann hat man in China leider damals nicht mitzählen können. Auf die Haarmann-Fahne kann ich persönlich verzichten. Die Schließung meines französischen Lieblingsrestaurants fände ich aber schade, denn dort schmecken mir trotz des chinesischen Menschenschlächters die Magret de Canard und das Boeuf Bourgignon sehr gut.

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2 Gedanken zu „Warte nur ein Weilchen, bald kommt der DFB auch zu dir

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