Ohne Stimme fast keine Stimmung

P1000046Nach zuletzt zwei Niederlagen in den letzten drei Heimspielen besiegte Hannover 96 den Tabellenvorletzten Greuther Fürth mit 2:0 und verhinderte damit den Fall ins graue Mittelmaß der Liga. Gesprächsthema des 14. Bundesligaspieltags war allerdings auch in Hannover nicht 2:0, sondern 12:12.

Unter der Überschrift „Ohne Stimme keine Stimmung“ schwiegen die organisierten Fans in Deutschlands Fußballstadien am letzten Spieltag die ersten zwölf Minuten und zwölf Sekunden nach Anpfiff. Keine Gesänge, kein Fahnenmeer in der Kurve, stattdessen Stille. Hintergrund: Der Ligaverband DFL will am 12.12.2012 über ein neues Sicherheitskonzept befinden, welches von den aktiven Fanszenen mehr oder minder geschlossen abgelehnt wird. Auch im Niedersachsenstadion protestierten die Fans beider Mannschaften gegen die geplante Verabschiedung des neuen DFL-Sicherheitskonzepts. In beiden Fanblöcken wurden Banner mit der Aufschrift „Ohne Stimme 12:12 keine Stimmung“ befestigt.

Auf hannoverscher Seite wurde das Schweigegelübde durch das frühe Tor von Diouf in der 4. Spielminute auf eine harte Bewährungsprobe gestellt, ein „typisches Hannover-Tor“ (Süddeutsche Zeitung) in weniger als zehn Sekunden nach Balleroberung erzielt – leider sind schnelle Konter für Hannovers Spiel inzwischen weit weniger typisch als überregional weiterhin standhaft behauptet wird. Davon abgesehen schwieg aber ganz Hannover beharrlich. Ganz Hannover? Nein! Einige uneinsichtige Fans hörten nicht auf, dem Stimmungsboykott Widerstand zu leisten – sicherlich bei weitem nicht die Mehrheit der Zuschauer, auf der anderen Seite aber auch nicht verschwindend wenige. Schon vor dem Führungstreffer hatte die Wand des Schweigens Risse gezeigt, nicht nur vereinzelt wurde die Mannschaft aus der Nordkurve mit HSV-Rufen begrüßt. Kurz vor Ablauf der zwölf Minuten und zwölf Sekunden setzte zudem ein Teil der Nordkurve zu einem Hannover-Wechselgesang an, den die Fans auf der Gegengerade lauter als gewöhnlich beantworteten. Einen nach Ende des Stimmungsboykotts vom ansonsten hierfür zuständigen Rote-Kurve-Block N16/17 initiierten Hannover-Wechselgesang unterstützte die West hingegen weniger enthusiastisch. Schließlich wurden „Scheiß DFB-Rufe“ von einem vielleicht nicht gellenden, aber doch deutlich vernehmbaren Pfeifkonzert begleitet. Dies ist bemerkenswert, weil eigentlich schon seit Urzeiten die ersten Worte, die ein Fußballfan spricht, „Fußballmafia DFB“ lauten, eine gesunde Skepsis gegenüber den Gaunern aus der Otto-Fleck-Schneise in Deutschlands Stadien an sich zum guten Ton gehört.
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Über die Motive der Stimmungsboykottboykotteure kann man nur spekulieren. Bei manchem Gelegenheitsbesucher wird der monatelange Dauerbeschuss durch die Medien mit dem vermeintlichen Gewaltproblem in Deutschlands Profifußball Wirkung hinterlassen haben. Der eine oder andere weniger Informierte dachte vielleicht auch, die Ultras Hannover würden immer noch oder schon wieder wegen der Haarmann-Fahne, Choreo-Verboten, Pyro-Sanktionen oder ähnlichem streiken und wollte sich demonstrativ auf die Seite des Vereins stellen. Darüber hinaus bricht sich aber – so ist mein Eindruck – bei solchen Reaktionen auch Bahn, dass traditionelle Fans mit der Ultrakultur und ihren Protestformen fremdeln. Zwar stehen sie der Kommerzialisierung des Fußballs ebenso ablehnend gegenüber, haben aber mit dem Revoltegestus der Ultras ein Problem. Die Gegnerschaft der Ultras zum sogenannten modernen Fußball gehört zu ihrer DNA, sie sind somit parodoxerweise selbst die Konsequenz dessen, was sie bekämpfen. Zugespitzt formuliert: Ohne modernen Fußball – jedenfalls in Deutschland – keine Ultrakultur. Dieser für die Ultras identitätsstiftende Antagonismus stellt aber aus Sicht des klassischen Fans sein Fansein als solches infrage, da er auch nicht davor haltmacht, die eigene Fanidentität losgelöst von ihrem eigentlichen Bezugspunkt, dem Verein, zu entwickeln. Dem Politisieren der sich gerne als aktive Fanszene bezeichnenden Ultragruppierungen steht mancher traditionelle Fan mit seiner im Kern passiven Leidenschaft eher skeptisch gegenüber.

Hierfür spricht nach meiner Beobachtung auch die Reaktion vieler Zuschauer in der Nordkurve auf die Solidaritätsbekundungen für Fans der Tottenham Hotspur. Insgesamt sieben Fans der Spurs waren in der letzten Woche vor der UEFA-Pokal-Begegnung bei Lazio Rom bei einem Überfall auf einen Pub verletzt worden, ein Fan musste nach einem Messerstich in die Brust mit schweren Verletzungen in eine Klinik gebracht werden. Der Angriff hatte womöglich einen antisemitischen Hintergrund:Teile von Lazios Fanszene stehen bekanntlich faschistischem Gedankengut aufgeschlossen gegenüber, während sich die Fans von Tottenham Hotspur selbst als Yid Army bezeichnen. Am darauf folgenden Spieltag der Premier League bewiesen dann Fans von West Ham United, dass die britische Staatsangehörigkeit alleine kein Garant für guten Humor ist: Im Derby gegen Tottenham spielten sie mit zischenden Lauten auf die Gaskammern in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern an. Einige West-Ham-Fans sollen zudem „Können wir euch jede Woche abstechen?“ und „Viva Lazio“ gesungen haben. Mit Blick auf diese Vorfälle sollte durch den Oberrang der Nordkurve ein Solidaritätsbanner mit der Aufschrift „Spurs we are with you“ gereicht werden, was zunächst lustlos, später schon fast widerwillig getan wurde, schließlich wurde das Banner zerknüllt den Aufgang heruntergeschubst. Ich gehe nicht davon aus, dass irgendjemand in der Nordkurve mit den Geschehnissen heimlich sympathisiert, zumal für viele die Aufschrift des Banners gar nicht lesbar gewesen sein dürfte. Mir scheint sich daran vielmehr ein genereller Unwillen mancher Fans festmachen zu lassen, den Stadionbesuch regelmäßig mit im weiteren Sinne politischen Statements zu verbinden.

Vor dem Spiel gegen Leverkusen rufen die Ultras Hannover zu einem gemeinsamen Marsch beider Fanszenen gegen das DFL-Sicherheitskonzept auf. Man kann Vorbehalte gegen die Ultrakultur haben, sich an ihrem Absolutheitsanspruch im Hinblick auf die Vertretung der Fankurven stoßen. Dennoch: Die Frage von Fanrechten geht nicht nur die Ultras etwas an und so wird auch der Protest gegen das DFL-Papier nicht nur von Ultragruppierungen getragen. Ohne die Kampagnefähigkeit der Ultraszene würden Faninteressen weniger wirksam artikuliert und somit merklich weniger Berücksichtigung finden.

Hannover 96 – SpVgg Greuther Fürth 2:0 (1:0)
96: Zieler, Cherundolo, Eggimann, Haggui, Pander, da Silva Pinto, C. Schulz, Ya Konan (89. H. Sakai), Schlaudraff (72. Schmiedebach), Rausch, M. Diouf (86. Diouf)
Fürth: Grün, Nehrig, Kleine, Mavraj, Schmidtgal, Fürstner, Pekovic (67. Azemi), Klaus (72. Pledl), Prib, Stieber, Asamoah (67. Nöthe)
1:0 M. Diouf (4., Rechtsschuss, Ya Konan)
2:0 Eggimann (69., Kopfball, Schlaudraff)
Schiedsrichter: Marco Fritz
Zuschauer: 32.300 (davon 200 aus Fürth)
Gelbe Karten:  Schmiedebach (3.), Kleine (3.)

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